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8. Juli 2024

Lothar Böhnisch ist tot

So sachlich die Überschrift über den nicht wahrhabenwollenden Tod von Lothar Böhnisch ist, so ehrenbezeugend ist sie zugleich, denn nur das Ableben von herausragenden Menschen wird auf diese Weise bekanntgegeben, und Lothar Böhnisch war ein solch herausragender Mensch.

Aus der kursorischen Beschreibung seines Werdegangs, die sich am Ende dieses Textes befindet, kann die allgemeine Bedeutung von Lothar Böhnisch ermessen werden – für den Verein Wiener Jugendzentren und damit auch für die Wiener Jugendarbeit war sein Wirken von konkretem Einfluss. So war, um einen exemplarisch herauszugreifen, der inhaltliche Austausch mit ihm im Rahmen der Workshops „Qualität in der Offenen Jugendarbeit“ bereichernd und richtungsweisend in der Entwicklung des Wirkungskonzeptes des Vereins Wiener Jugendzentren.

Bereits 1991 konnte Lothar Böhnisch als Referent für eine vereinsinterne Fortbildung gewonnen werden. Der Titel seiner damaligen Fortbildung für Jugendarbeiter:innen lautete: „Zur Pädagogik des Jugendraums“. Es war eine Fortbildung, die wesentlich den Diskurs über die Sozialraumorientierung der Jugendarbeit einleitete. Das war auch der Beginn einer über Jahrzehnte dauernden fruchtbringenden Zusammenarbeit zwischen Lothar Böhnisch und den Wiener Jugendzentren, in denen er nicht nur als Referent Generationen von Wiener Jugendarbeiter:innen seine hohe Expertise der Jugendarbeit weitergab, sondern auch als Autor wertvoller Buchbeiträge im Rahmen der Wissenschaftlichen Reihe des Vereins Wiener Jugendzentren, so zum Beispiel in „Männliche Sozialisation und geschlechtsspezifische Arbeit mit Burschen zwischen Theorie und Praxis“ und „Sozialpädagogik und Jugendarbeit im Wandel – Auf dem Weg zu einer lebensweltorientierten Jugendförderung“.

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Lothar Böhnisch (3. von rechts) bei der Buchpräsentation "Jugend ermöglichen“

Aber auch als Mitherausgeber und Autor von „Jugend ermöglichen – Zur Geschichte der Jugendarbeit in Wien“ für den Verein Wiener Jugendzentren. Der Titel des Buches „Jugend ermöglichen“ stammt von Lothar Böhnisch, und wohl für ihn selbst so etwas wie sein Lebensmotto, sein lebenslanges Anliegen. Er war auch ein Kenner der Wiener Jugendarbeit. Anlässlich der Präsentation im Mai 2015 sagte er in einem Der Standard-Interview auf die Frage, wie stehe die Wiener Jugendarbeit international da, Folgendes:

In Deutschland gibt es einen Maßnahmenhype: Es gibt hier ein Modellprojekt, das drei Jahre dauert, dann dort eines und dort eines. In Wien gibt es Infrastruktur, die jederzeit eingesetzt werden kann. Das findet man sonst vielleicht noch in Skandinavien. Es ist ein Modell kommunaler Jugendarbeit, das über das Pädagogische hinausgeht, die Stadtentwicklung mitprägt und auf Gemeinwesen orientiert ist.“ (s. Der Standard, 13.05.2015)

Aus Anlass des dreißigjährigen Bestehens des Vereins Wiener Jugendzentren im Jahr 2008 hatte Lothar Böhnisch sich sofort bereit erklärt, die Festansprache zu halten, das eine besondere Ehre für die Wiener Jugendzentren war.

Über eine so viele Jahrzehnte währende Verbindung gäbe es vieles noch zu berichten, nicht nur über die höchste fachliche Kompetenz, sondern auch über die menschliche Seite, die soziale Zugewandtheit des Lothar Böhnisch, aber was zählt, ist das, was von ihm bleiben wird, und das sind seine Bücher, aus deren Lektüre so viel theoretisches Wissen und praktischer Nutzen gezogen werden kann.

Wie die kleine Auswahl seiner Schriften bereits zeigt, arbeitete er unermüdlich, forschte und veröffentlichte weiter, Jahr für Jahr:

  • Milieu und Milieubildung. Einführung in die milieuorientierte Sozialarbeit. Beltz Juventa, Weinheim 2023, ISBN 978-3-7799-7558-8.
  • Geschichte der sozialpädagogischen Ideen. Beltz Juventa, Weinheim 2022, ISBN 978-3-7799-6346-2.
  • Sozialpädagogik der Verantwortung. Nach Carl Mennicke. Beltz Juventa, Weinheim 2022, ISBN 978-3-7799-6643-2.
  • Zwischenwelten. Eine Gesellschaftstheorie für die soziale Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim 2021, ISBN 978-3-7799-6329-5.
  • Die Dialektik der Angewiesenheit. Das sozialpolitische Werk von Eduard Heimann neu lesen. Transcript, Bielefeld 2020, ISBN 978-3-8376-5271-0.
  • Sozialpädagogik der Nachhaltigkeit. Eine Einführung. Beltz Juventa, Weinheim 2020, ISBN 978-3-7799-6060-7.
  • Soziale Theorie der Schule. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2019, ISBN 978-3-8252-5156-7.
  • Die Verteidigung des Sozialen. Ermutigungen für die Soziale Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim 2018, ISBN 978-3-7799-2374-9.
  • Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlichkeit. Transcript, Bielefeld 2018, ISBN 978-3-8376-4075-5.
  • Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage, Beltz Juventa, Weinheim 2017, ISBN 978-3-7799-4578-9.
  • mit Wolfgang Schröer: Das sozialpolitische Prinzip. Die eigene Kraft des Sozialen an den Grenzen des Wohlfahrtsstaats. Transcript, Bielefeld 2016, ISBN 978-3-8376-3459-4.
  • Lebensbewältigung. Ein Konzept für die Soziale Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim 2016, ISBN 978-3-7799-3410-3 (3. Aufl. 2023).
  • Bleibende Entwürfe. Impulse aus der Geschichte des sozialpädagogischen Denkens. Beltz Juventa, Weinheim 2015. ISBN 978-3-7799-2373-2.
  • Pädagogik und Männlichkeit. Eine Einführung. Beltz Juventa, Weinheim 2015. ISBN 978-3-7799-2308-4.
  • Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Beltz Juventa, Weinheim 2013. ISBN 978-3-7799-2306-0.
  • Viele Männer sind im Mann. Bilder – Blicke – Horizonte. Ein soziologisches Lesebuch für Männer und Frauen. Edition Roesner, Maria Enzersdorf 2006, ISBN 978-3-902300-29-4.
  • Politische Soziologie. Eine problemorientierte Einführung. Leske und Budrich, Opladen 2006, ISBN 978-3-86649-000-0.
  • Die Entgrenzung der Männlichkeit. Verstörungen und Formierungen des Mannseins im gesellschaftlichen Übergang. Leske und Budrich, Opladen 2003, ISBN 978-3-8100-3557-8.
  • Abweichendes Verhalten. Eine pädagogisch-soziologische Einführung. 2., korrigierte Auflage. Juventa-Verlag, Weinheim/München 2001, ISBN 978-3-7799-1511-9.
  • Pädagogische Soziologie. Eine Einführung. Juventa-Verlag, Weinheim/München 1996, ISBN 978-3-7799-0353-6.
  • Gespaltene Normalität. Lebensbewältigung und Sozialpädagogik an den Grenzen der Wohlfahrtsgesellschaft. Juventa-Verlag, Weinheim/München 1994, ISBN 978-3-7799-1021-3.

Zu einem abgerundeten Bild seiner Persönlichkeit gehören auch die Interviews und Vorträge von Lothar Böhnisch, die im Internet abgerufen werden können, als Auswahl sollen hier nur erwähnt werden:

„Jugend ermöglichen“ – Vortrag
„Es gibt nicht DIE Jugend“ - Interview
„Theorien Sozialer Arbeit“ - Podcast

 

Professor Lothar Böhnisch, geboren am 17. Juni 1944, verstarb am 27. Juni 2024, kurz nach seinem 80. Geburtstag. Er studierte von 1963 bis 1970 Geschichte, Soziologie und Ökonomie an den Universitäten Würzburg und München. Ab 1971 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Abteilungsleiter am Deutschen Jugendinstitut in München tätig. Von 1981 bis 1984 übernahm er kommissarisch den Direktorenposten des Deutschen Jugendinstitut. 1977 promovierte er an der Universität Tübingen, wo er sich 1982 habilitierte. Ab 1985 war Lothar Böhnisch in Tübingen als außerplanmäßiger Professor tätig und baute den Schwerpunkt Landjugend- und Regionalforschung auf. Nach einer Gastprofessur an der Universität Zürich 1990 lehrte er ab 1991 an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der TU Dresden, wo er 1992 Gründungsprofessor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter wurde. 2009 wurde Lothar Böhnisch emeritiert. Seit dem Studienjahr 2008/2009 hatte er eine Professur an der Freien Universität Bozen, Standort Brixen, an der Fakultät für Bildungswissenschaften übernommen:

Seine Arbeitsschwerpunkte waren die Theorie der männlichen Sozialisation (Männerforschung), Lebensalter, sozialen Arbeit und Generationenverhältnisse. Lothar Böhnisch gilt als einer der Vertreter:innen einer kritischen bzw. identitätsorientierten Jungenarbeit, die primär nicht am geschlechtsspezifischen Verhalten, sondern bei der Lebensbewältigung von Jungen und deren realen Unsicherheiten ansetzt. Lebensbewältigung war für Lothar Böhnisch „das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen, in denen das psychosoziale Gleichgewicht – Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung – gefährdet ist“.
(s. Lothar Bönisch, Lebensbewältigung. Ein sozialpolitisch inspiriertes Paradigma für die Soziale Arbeit, S. 223. In W. Thole (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, doi:10.1007/978-3-531-94311-4_9, 4. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer, 2012, S. 219–233.)

 

 

 

 

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