Ein ausführlicher Artikel zum Thema "Offene Jugendarbeit in der Extremismusprävention" ist in der Fachzeitschrift Deutsche Jugend, Ausgabe 7/8 2015, erschienen.
Das Thema „Extremismus“ ist wieder einmal in aller Munde und vor allem auch in allen Medien. Vordergründig geschieht das in Bezug auf junge Männer, meist mit, öfter auch ohne Migrationshintergrund, die „sich radikalisiert“ haben oder auch „radikalisiert wurden“ – je nach Interpretation – und bereit sind für ihre Ideologie/Religion Gewalt auszuüben, unter Umständen auch zu töten. Auf der anderen Seite erfahren Bewegungen wie die „Identitären“ durchaus Zulauf und, auch wenn es in der Offenen Jugendarbeit in Wien (im Gegensatz zu manch anderen Bundesländern) ein nicht so großes Thema ist, unter autochthonen österreichischen Jugendlichen sind – gelinde ausgedrückt – „extreme“ Ansichten auch nicht unbekannt. Die „Beratungsstelle Extremismus“, die vom Bundesnetzwerk Offener Jugendarbeit geführt und vom Familienministerium finanziert wird, hat sehr bewusst darauf Wert gelegt sich nicht ausschließlich um den laufenden Hype bezüglich religiösen Extremismus zu kümmern – sondern um sämtliche Spielarten davon.
In diesem Artikel geht es aber nicht um eine Theorie für das Phänomen (jugendlicher) Extremismus, vielmehr soll die Rolle der Offenen Jugendarbeit im Kontext dieser Entwicklungen angesprochen werden und warum diese eine wichtige Funktion in der Extremismusprävention hat.
Ab dem Jahr 2012, also lange vor dem medialen „IS-Hype“ im Sommer 2014, war aus den Praxisberichten der Einrichtungen des Vereins Wiener Jugendzentren immer wieder von einer Zunahme der Bedeutung von Religion, einseitig-polarisierender Ideologie und einem signifikant steigendem Antisemitismus unter einigen Jugendlichen zu lesen. Vereinzelt gab es auch bereits Fälle von jungen Männern, die Richtung Syrien aufgebrochen waren oder die das vorhatten. Mittlerweile ist der „Trend zum Äußern extremer Ansichten“ wieder signifikant zurückgegangen, wenn man das Thema auf „Islamischer Staat“ reduziert. Von dieser scheinbaren Entspannung sei aber eindringlich gewarnt: Antisemitismus, Homophobie, abwertendes Verhalten gegenüber Mädchen und Frauen aber auch gegenüber jeglichen Andersdenkenden ist nach wie vor weit verbreitet.
Die vom Landesjugendreferat der Stadt Wien in Auftrag gegebene Studie unter den Nutzer_innen der Offenen Jugendarbeit in Wien „Jugendliche in der offenen Jugendarbeit. Identitäten, Lebenslagen und abwertende Einstellungen" liefert dazu wertvolle Informationen auf vielen verschiedenen Ebenen.
Die Prinzipen der Offenen Jugendarbeit und ihre Funktion in der Extremismusprävention
Alleine die theoretische Auseinandersetzung hat bereits zur Erkenntnis geführt, dass einige der Prinzipien der Offenen Jugendarbeit in Österreich eine essentielle Rolle in der Extremismusprävention spielen, wenn sie adäquat angewendet werden.
Gemäß dem Theoriemodell der Offenen Jugendarbeit in Wien soll Jugendarbeit „Jugend ermöglichen“. Das Jugendalter heute ist nicht länger ein Schonraum, in dem Heranwachsende, von ökonomischen Zwängen größtenteils unbehelligt, ihre Identität finden und sich durch – vielfach familiär vordeterminierte Wege – auf ihre Berufstätigkeit vorbereiten. „Jugend reibt sich immer weniger an der Erwachsenenwelt, sondern sucht früh sich in ihr zu verbergen, in ihr unterzukommen.“1 In diesem Sinn spricht Lothar Böhnisch davon, dass es zunehmend Aufgabe der Jugendarbeit sein muss, Jugend zu ermöglichen, d.h. Jugendlichen die Chance zu geben, sich jenseits der spezifischen Anforderungen von Seiten der Erwachsenen- bzw. Arbeitsgesellschaft zu bewegen. „Sie trifft dabei vor allem auf sozial benachteiligte Jugendliche, denen der Experimentierstatus Jugend verwehrt ist, oder den sie sich risikoreich zu erkämpfen versuchen und dabei immer wieder in riskanten Bewältigungslagen hängen bleiben.“2
Demzufolge sind es Kernaufgaben der Offenen Jugendarbeit Entfaltungsmöglichkeiten, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und die Schaffung von Anerkennungskulturen zu ermöglichen.3 Das Konzept des Vereins Wiener Jugendzentren fasst zusammen „Offene Jugendarbeit 'ermöglicht Jugend' in diesem Sinne, indem sie Raum, Zeit und Beziehungen zur Verfügung stellt und dabei insbesondere die emotionale Komponente, die Lust und den Spaß an der Sache, an der Begegnung und Auseinandersetzung ins Zentrum rückt.“4 Diesem Modell folgend spielen einige der Prinzipien der Offenen Jugendarbeit5 eine besonders wichtige Rolle:
Die Offenheit für alle interessierten Jugendlichen drückt sich in der Vermittlung des Gefühls von Willkommen sein und Wertschätzung gegenüber den Zielgruppen und deren Bedürfnissen und Besonderheiten – ungeachtet von Weltanschauung, Herkunft, Bildung u.a. – aus.
Dem Prinzip der Offenheit folgend ermöglichen die Konzeption, Wahl und Gestaltung der Angebote einen möglichst niedrigschwelligen Zugang. An der Lebenswelt orientierte Experimentierräume und Beziehungsangebote werden, frei von Konsumzwang, unmittelbar und ohne spezielle Voraussetzungen oder Verpflichtungen zur Verfügung gestellt.
Das Kernprinzip der Offenen Jugendarbeit, aus welchem sich viel an der spezifischen Methodik ableitet, ist zweifelsohne die Freiwilligkeit der Teilnahme und daraus folgernd die Möglichkeit jederzeit auszusteigen.
Die professionelle Beziehungsarbeit, die auch Vertraulichkeit und Transparenz beinhaltet, ermöglicht eine verlässliche, fachliche und emotionale Begleitung Heranwachsender. Durch einen stabilen Beziehungsrahmen werden Orientierung, soziale Kompetenz, sowie Meinungs- und Handlungsvielfalt in einer Zeit des „sich Erprobens“ und dem Ausloten von Grenzen unterstützt. Eine besondere Rolle im Kontext der Arbeit mit zum Extremismus affinen Jugendlichen kommt dem Prinzip des Parteilichen Mandates zu. Durch das parteiliche Mandat wird Jugend als gleichberechtigter Teil des Sozialraums und der Gesamtgesellschaft unter den Bedingungen ständigen sozialen Wandels gesehen. Gesellschaftlich wird auf die Interessen, Rechte, Kompetenzen und Bedürfnisse der Jugendlichen aufmerksam gemacht und sie werden bei der Durchsetzung ihrer Anliegen parteilich unterstützt. Im Kontext extremistischer Ansichten ergeben sich hier für viele Kolleg_innen einige Widersprüche. Zum einen widersprechen schon viele Ansichten mancher Jugendlicher diametral den persönlichen Werten der Jugendarbeiter_innen – und auch jenen Werten, die Kraft der Konzeption professionell vertreten werden. Zum andern kommt es im Verhalten der Jugendlichen zu Übergriffen gegenüber anderen Jugendlichen, denen man genauso verpflichtet ist.
Grundsätze für die Arbeit mit Extremismus im Kontext Offener Jugendarbeit
Basierend auf den bisherigen Erkenntnissen lassen sich folgende Grundsätze bezüglich der Rolle Offener Jugendarbeit im Kontext von extremen, polarisierend-abwertenden Einstellungen, Haltungen und Identitäten Jugendlicher formulieren.
Diese Grundsätze sind generell anwendbar, unabhängig davon, ob es sich um religiöse Motivationen oder ethnisch-nationalistischen Extremismus handelt. Sie orientieren sich maßgeblich an den Prinzipien Offener Jugendarbeit, sollen handlungsanleitend sein und müssen in der Praxis auf die Situation und Zielgruppe bezogen angewendet werden.
Offenheit für alle
Wie bereits in den Prinzipien beschrieben, ist die Offenheit in Form einer „Positiven Willkommenskultur“ in Kombination mit der Freiwilligkeit der Teilnahme die „strukturelle Tür“, die es der Offenen Jugendarbeit erst ermöglicht mit Jugendlichen bzw. Jugendgruppen in Kontakt und Beziehung zu kommen, die anderen nicht mehr zugänglich sind. Ermöglicht wird das auch durch das Fehlen jeglicher formaler Hürden, hoher Unverbindlichkeit für die Jugendlichen bis hin zur Anonymität.
Im Rahmen der Arbeit ein offenes, aber auch sicheres und konstruktives Umfeld für Disput ermöglichen
Hinter diesem Grundsatz versteckt sich eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, nämlich die Jugendlichen so zu nehmen und akzeptieren, wie sie sind, mit allen ihren Meinungen (eben auch abwertend-polarisierenden), ihnen einerseits Sicherheit zu bieten und andererseits nicht zuzulassen, dass sie selbst die Einrichtung instrumentalisieren. Die Förderung von Beteiligung und Übernahme von Verantwortung durch die Jugendlichen sind wichtiger Bestandteil dieses Grundsatzes.
Eine eigene, klare und argumentierbare politische Position einnehmen
Eine akzeptierende Haltung gegenüber den jugendlichen einzunehmen bedeutet nicht keine eigene politische Position zu haben. Ganz im Gegenteil ist es im Kontext von Extremismus sogar essentiell diese zu bilden und auch zu vertreten. In dieser Hinsicht wirkt die Offene Jugendarbeit in ihrer Funktion als Teil der Bildungslandschaft und folgt der Menschenrechtspädagogik. In deren Mittelpunkt steht die Gleichberechtigung aller Individuen und in diesem Sinne stellt sie einen Gegensatz zu Ideologien der Ungleichheit dar. Gleichzeitig regt sie an eigene Interessen zu artikulieren und zu vertreten, was auch im Sinne der Jugendlichen ist. Dieser Grundsatz stellt eine besonders hohe Herausforderung dar, weil er die Authentizität der Jugendarbeiter_innen in besonderem Maß fordert.
Die Lebenswelt der Jugendlichen kennen
Was für Offene Jugendarbeit selbstverständlich ist, hat auch hier besondere Bedeutung. Das Wissen um die unmittelbaren Lebensumstände der Zielgruppe ist grundlegende Voraussetzung für die Arbeit mit ihnen.
Professionelles Wissen zu den Themen, die die Jugendlichen bewegen
Kaum ein Punkt erzeugt in Österreich so viel Disput in der aktuellen Diskussion zur Arbeit mit „Radikalisierten“ wie dieser. In der Diskussion versteckt sich die Frage nach der Rolle von Religion. Die eine These besagt nämlich, dass nur religiös fundiert Ausgebildete (also beispielsweise Religionspädagog_innen oder Imame) nachhaltig mit den Jugendlichen arbeiten können, weil nur diese den Jugendlichen den „richtigen“ (religiösen) Weg zeigen können, indem sie die „richtigen“ Übersetzungen und Interpretationen liefern. Dem widerspricht aber die – oft von denselben Personen vertretene – These, das hätte mit Religion gar nichts zu tun.
Am Ende geht es um einen Mittelweg. Sozialarbeiter_innen, Jugendarbeiter_innen, Therapeut_innen, wer immer mit diesen Jugendlichen arbeitet, kommen nicht umhin sich mit deren Themen auseinander zu setzen und dazu gehört eben auch die Religion. Aber es geht nicht um tiefes sondern um solides Wissen – so wie bei jedem anderen Thema auch, das für Jugendliche wichtig ist. Arbeitet man mit Jugendlichen, die starke Affinität zu illegalen Substanzen haben, muss man sich auch über diese Substanzen und ihre Wirkungen informieren, aber nicht gleich Medizin studieren.
Wie in diesem Beispiel, kann es auch in der Arbeit mit von Extremismus gefährdeten Jugendlichen durchaus Sinn machen fallweise eine/n Expert_in beizuziehen. Solides Wissen ist gefragt, will man professionell agieren. Ein komplettes einschlägiges Studium zum Thema ist nicht notwendig, vor allem wenn es um Präventionsarbeit geht.
Über Handlungen urteilen, aber nicht über die Person
Eine dauerhafte Arbeitsbeziehung auf gegenseitiger freiwilliger Basis kann nur funktionieren, wenn es ein gegenseitiges Anerkennen der Person gibt. Im Fokus der Kritik müssen daher die Handlungen der Jugendlichen stehen, insbesondere wenn es um Gewalt oder ihre Verherrlichung, um Rassismus, sei es verbal oder real, geht.
Klare Grenzen setzen, unter gleichzeitiger Achtung der Person
Grenzen müssen möglichst klar definiert sein und zwar Grenzen des Handelns und auch Grenzen im sich Ausdrücken. Grenzüberschreitung muss entsprechend angesprochen oder auch sanktioniert werden – ein Punkt, der manchmal schwer fällt, weil man damit die Beziehungsqualität auf eine Probe stellt. Aber gerade bei Menschen, die auf der Suche nach Orientierung sind, sind Grenzen umso wichtiger und immer wieder ist es fast überraschend, wie dankbar sie oft angenommen werden. Nicht zuletzt sind sie auch ein Zeichen dafür, dass man die Jugendlichen ernst nimmt, dass es einem eben nicht egal ist, was sie tun. Grenzziehung muss schlüssig erklärt sein und nicht willkürlich erscheinen.
Zeit und Kontinuität
Es ist wichtig sich darüber bewusst zu sein, dass es sich bei Präventionsarbeit und auch bei Deradikalisierung um etwas handelt, das Zeit und Kontinuität braucht. Es ist dabei wichtig sowohl den Prozess im Auge zu behalten als auch angestrebte (Zwischen)Ergebnisse zu formulieren und diese regelmäßig zu überprüfen und zu adaptieren.
Vieles des oben Beschriebenen ist eigentlich nicht neu. Dennoch ist es wichtig sich diese im Grunde bekannten Grundsätze wieder ins Gedächtnis zu rufen und auf die aktuellen Notwendigkeiten hin zu adaptieren. Wenn es auch gilt den meist maßlos überzeichneten Dramatisierungen der Massenmedien entschieden zu widersprechen und Einiges ins richtige Licht zu rücken, darf nicht übersehen werden, dass einige der polarisierend-abwertenden Haltungen unter Jugendlichen signifikant im Steigen begriffen sind. Das Ausmaß der Sympathie für den „IS“ und die „Gegenbewegung“ am politisch rechten Rand der Gesellschaft lässt die Hoffnung, dass diese Phänomene bald wieder verschwunden sein werden, leider nicht zu.
1 Böhnisch (2012), Seite 140
2 ebenda, Seite 142
3 Wirkungskonzept, Verein Wiener Jugendzentren (Hrsg.) (2012), Seite 10
4 ebenda, Seite 11
5 ebenda, Seite 14 sowie „Qualität in der Offenen Jugendarbeit in Österreich“. Bundesweites Netzwerk offener Jugendarbeit (Hrsg.) (2011) sowie „Glossar soziale Arbeit im Öffentlichen Raum“. Krisch, Stoik, Benrazougui-Hofbauer, Kellner. Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit (2011)
Werner Prinzjakowitsch, Pädagogischer Bereichsleiter (VJZ)