Offene Jugendarbeit versteht sich von ihren sozialpädagogischen Ansprüchen und Zielsetzungen her als Ort der Mitgestaltung, Mitwirkung und Anerkennung von Jugendlichen. Dabei charakterisiert die Förderung demokratischer Aushandlungsprozesse auf Basis von Grund- und Menschenrechten die Offene Jugendarbeit des Verein Wiener Jugendzentren (VJZ). Diese ist schon seit der Gründung des Vereins von dem Anspruch, politische Bildungsprozesse anzuregen, getragen.
Das Erleben von Partizipation im VJZ entspricht dabei nicht nur dem demokratischen Prinzip, sondern geht auch davon aus, dass in der Mitbestimmung und in der damit verbundenen Übernahme von Verantwortung bedeutende (politische) Selbstbildungsprozesse Jugendlicher eingelagert sind. Die Anregung von Prozessen der Selbstermächtigung bezieht sich dabei nicht nur auf die Vorgänge in der Jugendeinrichtung. Offene Jugendarbeit bedeutet auch Unterstützung von Aneignungsprozessen Jugendlicher im öffentlichen Raum, als jugendtypische Form ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der VJZ nimmt dabei zugleich sein jugendpolitisches Mandat wahr.
In einem Seminar mit Albert Scherr haben Jugendarbeiter_innen des VJZ die Bedeutung der Offenen Jugendarbeit eindrücklich beschrieben: „Eine demokratische Gesellschaft ist auf Bildungsprozesse angewiesen, in denen Demokratie nicht nur als abstraktes Bekenntnis dargeboten, sondern als reale Möglichkeit erlebt wird.
Jugendzentren – wie auch Jugendarbeit generell – sind deshalb als soziale Räume zu gestalten, an denen lebendige Demokratie alltäglich erfahren werden kann. Sie sind Orte der Mitwirkung und Mitgestaltung, der Auseinandersetzung und Verständigung. Wir sehen eine zentrale Aufgabe darin, Ju gendlichen demokratische Gestaltungs- und Experimentierräume anzubieten, in denen sie lernen können, ihre Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren, sich mit anderen zu verständigen und an demokratischen Entscheidungsverfahren teilzunehmen.“ (Krisch/Scherr 2008)
Teilhabespielräume Jugendlicher ermöglichen!
Den Jahresschwerpunkt mitbestimmung.JA der Stadt Wien Abteilung Bildung und Jugend nahmen wir zum Anlass, eine interne Erhebung in allen Einrichtungen der Offenen und Mobilen Jugendarbeit über unterschiedliche Zugänge und Ansätze von Teilhabespielräumen Jugendlicher in der gegenwärtigen Praxis der Offenen Jugendarbeit des VJZ durchzuführen.
Die Auswertung der Berichte der Einrichtungen ließ auf folgende Formen der gelebten Partizipation schließen:
- Projekte, in denen Mitsprache und Mitbestimmung Jugendlicher im Jugendzentrum/Jugendtreff und der Mobilen Jugendarbeit unter Berücksichtigung der Genderperspektive im Vordergrund stehen.
- Projekte, die Teilhabe im öffentlichen Raum fördern.
- Programmatische bzw. formale Formen der Teilhabe Jugendlicher in der Jugendarbeit.
Zusammenfassende Erkenntnisse
Bei der inhaltlichen Analyse der 29 Berichte der Einrichtungen lassen sich viele Elemente dieses partizipativen Zuganges „als Alltagsprinzip“ (Von Schwanenflügel 2018) der Offenen Jugendarbeit finden: Immer wiederkehrend werden Situationen beschrieben, in denen Interessen, Themen, Bedürfnisse und „Selbstbestimmungsäußerungen“ Jugendlicher artikuliert werden. Ideen und gemeinsame Vorstellungen für Aktivitäten entstehen und werden mit umfassender Beteiligung und Mitverantwortung der Jugendlichen verbunden und mit mannigfaltigen Mitsprachegelegenheiten der Jugendlichen umgesetzt.
In allen Beschreibungen ist als durchgehende Perspektive die Entwicklung und Förderung eines Demokratieverständnisses der Jugendlichen zu erkennen. Im Wechselspiel zwischen der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen auf der einen Seite und der Wahrnehmung und Akzeptanz der Meinungen und Positionierungen anderer, wird versucht, ein dialogisches Verhältnis im sozialräumlichen Kontext der Jugendarbeit zu gestalten. Dieses kennzeichne t sowohl die Beziehung der Jugendlichen untereinander, wie jenes der Betreuer_innen zu den Jugendlichen, in welchem gegenseitige Anerkennung und gegenseitig vermittelte (manchmal eingeforderte) Wertschätzung eine zentrale Rolle spielen.
Die Jugendarbeit ist auch als Ort gelebter Partizipation zu verstehen. Sie benötigt zudem auch formale und institutionalisierte Formen der Auseinandersetzung, wie Abstimmungen, Versammlungen, verbindliche Diskussions- und Dialogforen, um Mitverantwortung und gegenseitigen Respekt im sozialräumlichen Kontext von Jugendarbeit zu erreichen.
Formalisierte Formen der Partizipation sind in den Darstellungen der Einrichtungen vor allem in jugendgerechten Settings vorzufinden. Offene Versammlungsformen („die, die da sind, bestimmen mit“) sind offensichtlich auch Jugendlichen geläufiger. Repräsentative Formen, wie Wahlen im Jugendtreff, sind nur ansatzweise vorzufinden. Onlinebeteiligungen (z.B. über Instagram) stellen wiederum sehr jugendgerechte Formen der Beteiligung dar und haben größere Bedeutung im VJZ.
Konkrete Ausprägungen
1. Alltägliche und projektorientierte Formen der Partizipation
In fast allen Jugendeinrichtungen finden regelmäßige Aktionen mit einem hohen Grad an Mitbestimmungsmöglichkeiten, Mitsprache und Mitgestaltung statt.
An allen Standorten werden Partizipationsformen in den Alltag der Jugendarbeit eingebettet. Jugendliche und Jugendkulturen artikulieren Ideen oder entwickeln Handlungsformen, die oft in Projektarbeit, mit unterschiedlichen Formen der Beteiligung, Übernahme von Verantwortungen und Formulierung eines Projektzieles, umgesetzt und gefördert werden. Aus den vielen Beispielen der Einrichtungen werden hier exemplarisch, stichwortartig einige benannt: Medien- und Fotoprojekte, Kochen, Raumgestaltung und Renovierungen, Raumvergaben, Breaker-Training, Ausflüge planen, Musikvideos erstellen, Gartenarbeit, Übernachtungsaktionen, Sprayaktion im Garten, Party- und Veranstaltungsorganisation, Schwimmen, Trainings im Fitnessraum, selbstorganisierte Tischfußballturniere, Nutzung des Tonstudios und des Tanzraumes, Antigewalttrainings, selbstverwaltete Jugendwerkstatt etc.
In einigen Einrichtungen werden auch ganz spezifische gendergerechte Aktionen durchgeführt, wie beispielsweise Mädchenübernachtungen, Burschenausflüge, Burschenkonferenzen, Mädchenbox, Mädchenbüro oder Mädchen-Picknick.
2. Projekte, die Teilhabe im öffentlichen Raum fördern
Aneignungsprozesse von Jugendlichen im öffentlichen Raum lassen sich als unmittelbarste Form der Teilhabe Jugendlicher am gesellschaftlichen Leben beschreiben. Sie eignen sich ihre Umwelt an, entwickeln Fähigkeiten diese Räume zu gestalten und positionieren sich (auch als Jugendliche) im öffentlichen Raum, beispielweise in Form von selbstorganisierten Veranstaltungen. Im Versuch der Durchsetzung von Interessen, in der Aushandlung von Konflikten, die sich aus unterschiedlichen Raumverständnissen erklären lassen, liegt eine raumbezogene politische Bildungserfahrung: Mit Rückweisung oder dem jugendlichen Recht auf gesellschaftliche Teilhabe umzugehen und der Entwicklung demokratischer Interventions- und Aushandlungsprozesse zu begegnen.
Auch hier sollen einige Best-Practice-Beispiele der Einrichtungen, die Förderung von selbstbestimmten Aneignungsprozessen Jugendlicher verbildlichen, genannt werden: Mädchen-Sportfreifläche, Parkumgestaltung, Jugendkulturprojekte, Streetworkrunden, Planung und Durchführung der Europride, Jugendsportplatz, selbstorganisierte Turniere, Cheerleading- und Parcourworkshops, Scootercontest, selbstorganisierte Jugendveranstaltungen im öffentlichen Raum und in Parks u.a.
3. Formal-demokratische Formen der Teilhabe Jugendlicher
Ziel von politischen Bildungsprozessen in der Jugendarbeit ist auch Demokratieerziehung. Darunter ist die Befähigung Jugendlicher zur Klärung und Artikulation ihrer Interessen und Einübung in demokratische und dialogische Kommunikationsformen zu verstehen.
Neben der Anerkennung der Selbstbestimmungsäußerungen in der Jugendarbeit steht im VJZ der Entwurf von unterschiedlichen demokratischen Mitbestimmungsformen Jugendlicher im Vordergrund.
Zu beobachten sind im VJZ unterschiedliche Formen alltagsweltlicher Mitbestimmungsformen wie
- Offene Versammlungsformen (eine Person – eine Stimme);
- Projektorientierte Formen;
- Medienorientierte Beteiligung Jugendlicher, die offensichtlich den alltäglichen Beteiligungsformen Jugendlicher entsprechen;
- Formale, repräsentative und (erwachsenen-)gesellschaftliche, etablierte Beteiligungsformen entsprechen mitunter nicht den Erfahrungen Jugendlicher, welche die Aufforderung zur Positionierung, Einmischung, Artikulation und Aushandlung ihrer Interessen oft erst im Alltag der Offenen Jugendarbeit erleben.
Beispiele bedeutender demokratischer und jugendgerechter Mitbestimmungsformen im VJZ sind: Offene Versammlungsformen in Jugendzentren: flash Sitzung, „Ajde gemma“, Diskussionsrunde und Jugendbetriebsversammlung, „Kinderforum“, Jugendsitzung, Offene Jugendteamsitzung, Burschenkonferenz, Partizipative BOXparlamente, Selbstorganisierte BoXen
Offene Versammlungsformen im öffentlichen Raum: Partizipative Parksprechstunden, Favoritner Kinder- und Jugendforum
Besondere Teilhabeprojekte im VJZ
- Seitenwechsel: Jugendliche Besucher_innen der Einrichtungen wählen demokratisch Vertreter_innen, übernehmen die Funktionen des Teams der Jugendeinrichtung und bestimmen selbst Angebote, Themenschwerpunkte und Regeln des Jugendzentrums und können über ein Budget verfügen. Die Jugendarbeiter_innen stehen im Hintergrund als Coaches zur Verfügung.
- CU television Jugendredaktion
- Selbstorganisierte Jugendräume und Raumvergaben: selbstorganisierte Räume für Parties, Tanzgruppen, DJs etc.
Medienorientierte Beteiligungsformen: Online-Mitbestimmung: z.B. Online-Befragung auf Instagram zu Programmwünschen und Ausflugszielen
Offene Jugendarbeit ist gelebte Partizipation!
In der Partispace Untersuchung (2018) von Christian Reutlinger über Jugendpartizipation in europäischen Städten wurden Spielarten der Partizipation Jugendlicher untersucht, die sich in der hier genannten Praxis im VJZ offensichtlich an vielen Stellen abbilden: „Interessensrepräsentationen“ werden von Jugendlichen eher als unangenehme Pflicht, denn als Recht wahrgenommen. Andere Spielarten stehen im Vordergrund: „Herstellen und Ausloten eigener Räume“, „Ausleben
von Fähigkeiten in verschiedenen Szenen“ und die Aneignung „pädagogisch-organisierter Freizeitinfrastruktur“ wurden als bedeutsame Felder jugendlicher Beteiligung identifiziert. Offene Versammlungsformen in Jugendzentren, regelmäßige Plena zu alltagsweltlichen Anlässen, Partizipative Parkparlamente, selbstorganisiere Jugendräume und Raumvergaben entsprechen eher den jugendlichen Vergesellschaftungsformen.
Zu fragen ist, wo und in welchen Situationen wir Teilhabespielräume für Jugendliche eröffnen und erweitern können. Wenn wir über Teilhabe reden, müssen wir die alltäglichen Vergesellschaftungsformen Jugendlicher als Abbildung ihrer Partizipation – als jugendgemäße Teilhabe auch in der Jugendarbeit – anerkennen.
Literatur:
Böhnisch,L./ Krisch, R.: Politische Bildung in sozialräumlicher Perspektive. Rehburg-Loccum 2013, URL: http://www.sozialraum.de/politische-bildung-in-sozialraeumlicher-perspektive/ Krisch, R.: Sozialräumliches Lernen in der Offenen Jugendarbeit. In: jugendarbeit:bildung zur selbstbildung. Versuch einer interdisziplinären Auseinandersetzung. Verlag für Jugendarbeit und Jugendpolitik, Graz 2018
Krisch, R., Stoik, C., Benrazougui-Hofbauer, E. & Kellner, J. Glossar soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Wien: Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit des FH Campus Wien, Wien 2011
Krisch, R./ Scherr, A.: Zur Entwicklung einer politischen Bildungspraxis in der Offenen Jugendarbeit. In: Verein Wiener Jugendzentren.
Partizipation. Zur Theorie und Praxis politischer Bildung in der Jugendarbeit. Wissenschaftliche Reihe Band 5. Wien 2008
Sturzenhecker, B.: Sich einmischen in Raumkonflikte mit Kindern und Jugendlichen – Konzepte und Praxis Offener
Kinder- und Jugendarbeit. In: Kemper, R./ Reutlinger, C. (Hrsg.): Umkämpfter öffentlicher Raum. Herausforderungen für Planung und Jugendarbeit. Springer VS, Wiesbaden 2015
Von Schwanenflügel, L.: „so den kleinen Revolutionär in mir rauskitzeln“. Partizipation in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit aus einer
subjektiv-biographischen Perspektive Jugendlicher. Beltz/Juventa, Weinheim und Basel 2018 Reutlinger, C.: Partispace. EU-Projekt: Jugendpartzipation in europäischen Städten, St. Gallen 2018
Richard Krisch