Mehr als ein Drittel der in Wien lebenden über 16-Jährigen sind bei der kommenden Gemeinderatswahl nicht wahlberechtigt, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft haben. Das ist eine Steigerung von über 10 Prozentpunkten in zehn Jahren und ein riesiges demokratiepolitisches Problem. Der Verein Wiener Jugendzentren setzt sich im Rahmen der #InitiativeWahlrecht kritisch mit dem Thema auseinander und lud zu einem Mediengespräch in den Jugendtreff J.at am Volkertplatz.
Bei dem Medientermin kamen die Expert:innen Manuela Smertnik (Jugendzentren-Geschäftsführerin) und Gerd Valchars (Politikwissenschaftler) sowie betroffene Jugendliche zu Wort. Zudem wurde die Kampagne „Warum nicht GLEICH!?“ vorgestellt. Die jungen Menschen gaben dabei Einblicke in ihre Gefühlswelten und erzählten, was es mit ihnen macht, hier zuhause zu sein, aber nicht mitbestimmen zu dürfen.
Die Teilnehmer:innen des Mediengsprächs zur #InitiativeWahlrecht.
„Ich bin hier geboren, bin hier zur Schule gegangen und arbeite mittlerweile bei einem Bauunternehmen. Ich leiste meinen Beitrag, wie alle anderen auch. Trotzdem habe ich nicht die gleichen Rechte, weil ich den österreichischen Pass nicht habe“, meint der 19-jährige Daniel, der regelmäßig das JUMP besucht und viel mit den Jugendarbeiter:innen über diese Themen spricht.
Daniel (19) findet es ungerecht, bei der Gemeinderatswahl nicht wählen zu dürfen.
Monsef und Ahmad, beide 20 Jahre alt, verbringen ihre gesamte Jugend in Wien, viel Zeit davon im Jugendtreff Donaustadt. Beide kamen vor acht bzw. zehn Jahren aus Syrien nach Österreich, fühlen sich hier zuhause und machen momentan eine Ausbildung. Während ihr Beitrag zur Gesellschaft selbstverständlich ist, bleibt ihnen momentan noch das Recht verwehrt, über die Zukunft ihrer Stadt mitzuentscheiden. "Wenn du nicht wählen kannst, dann bestimmen andere für dich. Und ich glaube, das will keiner", meint Monsef.
Monsef (20) engagiert sich bei seinem Lehrbetrieb bereits im Betriebsrat.
Sein Freund Ahmad ergänzt: "Mir wurde immer gesagt, dass ich umsonst hier bin und sowieso nicht mitstimmen darf. Das fühlt sich wirklich nicht schön an". Zumindest für Ahmad könnte sich das in „naher“ Zukunft ändern, er hat demnächst seinen Ersttermin zur Beantragung der Staatsbürgerschaft.
Ahmad (20) besucht die HTL-Abendschule und hat seit kurzem auch den Führerschein.
Yurdanur hätte später ebenfalls gerne einmal die österreichische Staatsbürgerschaft. Die 17-Jährige hat sowohl türkische als auch bulgarische Wurzeln, lebt mittlerweile in Wien Brigittenau, besucht gern den Jugendtreff MIHO und sucht eine Lehrstelle. Von der Politik wünscht sie sich: "Dass sie uns ernst nehmen und anerkennen, dass wir auch schon lange hier leben und mitbestimmen wollen". Durch die Staatsbürgerschaft erhofft sie sich außerdem mehr Möglichkeiten bei der Job- und Wohnungssuche.
Yurdanur (17) im Gespräch mit FM4 Radio.
Auch Witold (19) fehlt die österreichische Staatsbürgerschaft noch und somit ein umfassendes Wahlrecht in Österreich. Er lebt seit seinem 4. Lebensjahr in Wien und interessiert sich für Themen wie Wirtschaft, Sicherheit, Diplomatie und Politik, worüber er auch gerne mit den Jugendarbeiter:innen von 19KMH diskutiert. Als EU-Bürger darf er zumindest bei den Bezirksvertretungswahlen teilnehmen. Das ist wichtig, aber nicht genug, wie er betont: „Bei den Gemeinderatswahlen wird indirekt entschieden, wer Bürgermeister oder Bürgermeisterin von Wien wird. Da würde ich gerne mitreden und meine Stimme abgeben, immerhin lebe ich seit 15 Jahren hier“. Die Staatsbürgerschaft könnte er mittlerweile beantragen, dafür müsste er allerdings viel Geld zahlen bzw. verdienen und seinen polnischen Pass zurückgeben.
Witold (19) war im der Unterstufe schon Klassen- und Schulsprecher.
Die Aussagen der Jugendlichen zeigen, wie wichtig ihnen das Recht zur politischen Mitbestimmung in ihrer Stadt wäre. Dafür bräuchten sie die österreichische Staatsbürgerschaft, da das Wahlrecht an diese gekoppelt ist. Die Hürden dafür sind jedoch hoch und zahlreich, das Staatsbürgerschaftsrecht Österreichs ist im europäischen Vergleich eines der restriktivsten. Mehr Infos dazu findest du in unserem Positionspapier.
Die größte Gruppe wird bei der Gemeinderatswahl am 27. April 2025 mit über 35% voraussichtlich wieder die der Nicht-Wahlberechtigten sein. Das stellt ein ernsthaftes Problem für die demokratiepolitische Legitimation einer gewählten politischen Vertretung dar und wird sich aufgrund des anhaltenden Bevölkerungswachstums in Wien und der Hürden beim Erlangen der Staatsbürgerschaft immer weiter verstärken.
Jugendzentren-Geschäftsführerin Manuela Smertnik dazu beim Mediengespräch: „Es ist besorgniserregend, wenn über ein Drittel der Wiener Bevölkerung von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen ist. Das trifft junge Menschen besonders hart, die hier aufwachsen und zuhause sind. Viele sind in Österreich geboren, fühlen sich so jedoch künstlich fremd gemacht. Ihnen wird dadurch auch die Identifikation als Wiener:in erschwert.“
Manuela Smertnik im Interview mit ORF Wien.
Die Lage in Österreich ist besorgniserregend. Es braucht einen breit angelegten Prozess, der die Themen Wahlrecht und Staatsbürgerschaft überdenkt, denn die Zahl steigt rasant weiter. Demokratie lebt von Beteiligung – politische Teilhabe darf kein Exklusivrecht einer immer kleiner werdenden Gruppe werden. Anerkennung, Gleichberechtigung und Zukunft soll für alle Menschen Realität sein.
Mehr dazu:
Positionspapier des Verein Wiener Jugendzentren
Instagram-Reel zum Mediengespräch
FM4 Morning-Show: Warum dürfen so viele junge Menschen nicht wählen?
MeinBezirk: Einschränkung der Demokratie für Wiens Jugendliche