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21. Dezember 2021

41 Jahre Jugendarbeit

Reinhard Sander im Gespräch

41 Jahre lang war er in der Jugendarbeit: Reinhard Sander. Er war seit den Anfängen des Vereins Wiener Jugendzentren bei uns tätig, hatte als Zivildiener gestartet und zuletzt die Leitung im Jugendzentrum Hirschstetten. 2021 geht er nach vier Jahrzehnten in Pension. Im Interview für das SEE YOU blickt er auf seine Karriere als Jugendarbeiter zurück.

Du bist mit deinen 41 Jahren Erfahrung in der Jugendarbeit ein Urgestein. Blicken wir zurück auf deine Anfänge. Wie bist du in die Jugendarbeit eingestiegen?

1980 absolvierte ich den Zivildienst im Jugendzentrum Hirschstetten, dann folgten zwei Ausbildungen in Textildesign und Reproduktionsfotografie im grafischen Gewerbe. Das damalige Team hat meine kreative Seite geschätzt und mich ins Team aufgenommen. Nach einem halben Jahr im Jugendzentrum Leopoldstadt wechselte ich in die Großfeldsiedlung und erlebte die Pionierphase im Nautilus. Dort übernahm ich 1985 die Leitung – nach 18 Jahren Großfeldsiedlung war der Wechsel nach Hirschstetten. Von 2006 bis 2016 war ich beim Aufbau der Mobilen Jugendarbeit SEA (Essling-Aspern-Stadlau) dabei.

 

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In 41 Jahren gab es bestimmt viele schöne und nicht so schöne Momente. Was waren deine Top 3 Highlights in den 41 Jahren beim Verein? Und welche nicht so schönen Momente gab es dennoch?

Es gab zahlreiche Highlights, emotionale und reichhaltige Momente, die aber in größeren Zusammenhängen eingebettet waren. Besonders aber wenn Teamkonstellationen zusammengewachsen sind, an einem gemeinsamen Strang gezogen wurde und erfolgreiche Ergebnisse in einem Gefühl von „Gemeinsam haben wir das geschafft“ eingefahren werden konnten. Noch viel mehr aber, wenn Eltern, Jugendliche und Kinder aus eigener Initiative ihre Anliegen und Ideen artikulierten und die Jugendarbeiter_innen nur noch den nötigen Rahmen zur Verfügung stellen mussten und Großartiges gelang. Eine solche Rahmenbedingung für Begegnung und Eigeninitiative war und ist der ACTiN Park.

Die Installierung der Mehrfachnutzung ACTiN Park

1998 als ich das Jugendzentrum Hirschstetten in einer eher tristen sozialräumlich akzeptierten Lage übernahm, war nicht abzusehen, was aus dem Vorplatz des Jugendzentrums entstehen konnte. Der ressourcenorientierte Zugang der Jugendarbeit war nicht etabliert. Der Umbau von problemorientierter zu ressourcenorientierter Jugend- und Gemeinwesenarbeit war angesagt. Dass sich eine Erwachsenengruppe bereits für den Umbau des heruntergekommenen Schulsportplatzes vor dem Jugendzentrum engagierte und Schulen das heruntergekommene Image von Hirschstetten beklagten, begünstigten den Kipppunkt und eine Änderung des Blickwinkels. Es war der richtige Moment für eine Kursänderung. Die installierte ACTiN Park-Gruppe, in der ich als Leiter des Jugendzentrums die Moderation übernahm, wurde unter anderem mit dem Kinder- und Jugendanwalt und mit Jutta Kleedorfer als Mehrfachnutzungsbeauftragte verstärkt. Es war ein glücklicher Zeitpunkt, wo Mehrfachnutzung zum Thema wurde und politisch, auch durch Vizebürgermeisterin Grete Laska, gefordert war – trotz massivem Widerstand einiger Magistratsabteilungen.

In vierjähriger, konsequenter Anstrengung unter hoher Beteiligung von Schüler_innen, Jugendlichen und Erwachsenen konnte eine Vision und eine Umgestaltung des Jugendsportplatzes zum ACTiN Park, in Mehrfachnutzungsform, gelingen. Das Jugendzentrum hatte in seiner sozialräumlichen Funktion als Drehscheibe, Bespielungs-, Beteiligungsplattform und Ressourcenbereitsteller eine zentrale Aufgabe. Spiel- und Experimentierfelder öffneten sich. Mängel und Konflikte wurden gemeinsam bearbeitet. Aneignungs- und Verdrängungsprozesse mussten gut im Auge behalten werden. Ein Bild des Eingeladenseins, sei es zum einfachen Aufenthalt oder auch zur Mitgestaltung an Programmatik, Visionen und Ideenentwicklung, wurde von Beginn an gefördert und inzwischen über mehrere Jugendgenerationen tradiert.

2004, nach der Eröffnung des ACTiN Parks, wussten wir noch nicht, ob es uns gelingen kann, die Visionen umzusetzen. Heute, 17 Jahre später: Viele Male wurden unsere damaligen Visionen mehr als bestätigt, sogar übertroffen. Der ACTiN Park wurde zu dem Freizeitpark in Hirschstetten und ist eng verknüpft mit den Angeboten des Jugendzentrums. Zahlreiche Aktivitäten und alltägliche Begegnungen bestätigten die anfängliche Vision eines Zusammenwirkens unterschiedlicher Menschen. Ich wurde vielfältig überrascht, was alles möglich ist. So gesehen war der ACTiN Park ein Modellprojekt und eines meiner Highlights.

Die Pionierphase Seestadt und der Osten von Wien

 

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Manchmal kommt man unerwartet zu neuen Aufgaben. Hirschstetten war 1990 der östliche Wiener Rand der Jugendarbeit. Dort, wo Felder und vereinzelt neue Bauten das Stadtbild bestimmten, gab es keinen Blick für Jugendarbeit: „Sie hätten eh die Lobau“, ein paar Lokale, den Sportverein Essling und die kirchliche Jugendarbeit, die ihr Bestes tat. In einer quasi ländlichen Region mussten sich Jugendliche damit abfinden, dass ihre Eltern den Grünraum bevorzugten. Der öffentliche Verkehr war nur mangelhaft angebunden an die Stadt. Als einzige „Attraktivität“ wurde das Donauplex genannt.

2004: Die baugleich errichteten Skateranlagen an vier verschiedenen Standorten in der Donaustadt mobilisierten die Skaterszene. Das Jugendzentrum Hirschstetten organisierte mit den Skatern den ersten Danube Skate Jam und brachte Essling und Hirschstetten zueinander. Die davon ausgehende Mobilisierung der Jugendlichen als auch die Distanzierung der kirchlichen Jugendarbeit Jugendparties zu erlauben, führten dazu, dass 40 Jugendliche bei der Bezirksvorstehung ein Jugendzentrum in Essling forderten. Die Antwort war vorerst eine Mobile Jugendarbeit, die sich mit den jugendlichen Anliegen speziell auseinandersetzte. Neue methodische Ansätze (Think-Tank, Trans-Tank) wurden dabei entwickelt. Die Ausweitung der Mobilen Jugendarbeit nach Aspern und Stadlau und die kooperierenden Vernetzungen in der Ostregion richteten den Blickwinkel auf die Bedürfnisse der Jugendlichen. Sie führten in langen Prozessen zur Installierung der beiden Jungen Boxen in Essling und Aspern und letztendlich zur Etablierung eines temporären Jugendtreffs, zum Jugendpoint SEA.

Im Rückblick dieser zehnjährigen Entwicklung gab es für mich viele Highlights in der Zusammenarbeit mit den Kooperationspartner_innen, mit den Institutionen, den Magistraten und der Stadt- und Bezirkspolitik. Mehrere Generationen von Jugendlichen profitierten von einer partizipativ angelegten Jugendarbeit, vom Ausbau der Infrastruktur und von den vielfältigen Beteiligungsmöglichkeiten an ihren Anliegen. Ihre positiven Rückmeldungen bestätigen nachhaltig unser Engagement. Für das Team und mich war es ein unglaublich reichhaltiges Lern- und Experimentierfeld.

 

Teilnahme an der professionellen Weiterentwicklung des Vereins und der Jugendarbeit

Die Themenfelder der Jugendarbeit waren schon immer multifaktoriell und stets eine Herausforderung in den Prioritätensetzungen. Unterschiedliche Konzeptionen und Leitlinien dominierten theoretische Ansprüche und in einem Wirrwarr musste praktikable Ordnung geschaffen werden. Was brauchen Zielgruppen und Anspruchsgruppen? Welche Ansprüche hat die Stadt? Was ist machbar und wo liegen Grenzen? Wofür steht die Jugendarbeit und wie sieht die Aufgabenverteilung zwischen den Institutionen aus? Die Klärungen dieser Fragestellungen waren von permanenten Diskussionen und Auseinandersetzungen begleitet. Die Logiken der Sozialraumorientierung und der Handlungsfelder konnten klärende Ordnung bringen.

So waren die Entwicklung des Leitbildes, der Prozess der Organisationsentwicklung mit Auf- und Ablauforganisation und die Entwicklung des Wirkungskonzepts grundlegend für eine professionelle Jugendarbeit. Wenn es hier und da auch zu bürokratischen Überformungen kam, die eine praktische Umsetzung im Alltag vereinzelt erschwerten, wurde der Rahmen für die Jugendarbeit gut abgesteckt. Ein Vergleich zu den 80er-Jahren macht mich sicher, dass der Verein dabei einen guten Weg genommen hat. In vielen der genannten Prozesse, Diskussionen und Auseinandersetzungen war ich eingebunden, es war herausfordernd und hat Spaß gemacht, dabei zu sein und war letztendlich Bestärkung für meine berufliche Identität in der Offenen Jugendarbeit.

Ja sicher, es gab auch nicht so schöne Momente, Konfliktsituationen in Teams, im Verein und mit der Zielgruppe, genährt aus differenten Sichtweisen, die in Folge eine Bearbeitung fanden. Jugendarbeit bezieht Stellung, agiert direkt und schaut nicht weg, wenn Konflikte auftreten. In den 41 Jahren gab es durchaus heikle und fordernde Situationen, die aber dank des professionellen Zugangs meist gut, manchmal sogar profitabel für alle Beteiligten ausgegangen sind. In den heiklen und konfrontativen Situationen war die professionell geführte pädagogische Arbeit des Vereins Wiener Jugendzentren von zentraler Bedeutung.

Hier danke ich den vielen Kolleg_innen und Vorgesetzten, die mit mir die Auseinandersetzung geführt, mich beraten und unterstützt haben.

Was hat sich in den 41 Jahren in der Jugendarbeit verändert? Und was ist heute gleich wie Anfang der 1980er-Jahre?

Ausgehend von den 70er-Jahren hatte die Wiener Jugendarbeit sehr einfache, meist programmatische Antworten: Jugendliche sollen von der Gefahr der Drogen weggebracht und in eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung geführt werden. Den lebensweltlichen Aspekten der Jugendlichen in einer allumfassenden Verständigung wurde kaum Rechnung getragen. Zunehmend entwickelte sich – unter anderem auch durch die Auseinandersetzung mit den autonomen Jugendbewegungen – die Frage der Ausbildung und des Berufsstands, die Hinterfragung der Ehrenamtlichkeit und politischen Abhängigkeiten etc. hin zu einer Professionalisierung. Die besondere Ressourcenarmut in den Schlafstädten, Konflikte zwischen Ethnien und autochthonen Jugendlichen forderten nach und nach neue Zugänge und Erklärungen in den Konzepten der Offenen Jugendarbeit. Mit dem professionellen Zugang zur Sozialräumlichkeit änderte sich der Arbeitsansatz, weg von „Erziehung“ hin zur „Lebensweltorientierung“. Da hat sich dann einiges getan, um nicht zu sagen, die Welt hat sich um 180 Grad gedreht.

Die Bedürfnisse der Jugendlichen, die sind gleichgeblieben. Es ging ums Erwachsenwerden, um Freundschaften, Liebesbeziehungen, Anerkennung, Beschäftigung, Geselligkeit, sexuelle Orientierung, psychische und körperliche Gesundheit, Chancengleichheit, Teilhabe, Kulturalität etc., so wie wir es heute auch kennen.

 

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Über die Jahre hast du viele Kinder, Teenager und Jugendliche begleitet und betreut. Welche Geschichten sind dir besonders in Erinnerung geblieben?

Es sind eher die „verrückten“ und an die Grenzen gehenden Geschichten und Szenen, die in Erinnerung bleiben. Da wo die Auseinandersetzungen am schärfsten waren und dann meist doch gut ausgegangen sind. Davon gab es einige und jede Geschichte hatte ihren besonderen Tiefgang. Eine blieb mir besonders in Erinnerung, als wir 2014 permanent mit Jugendlichen beschäftigt waren, die mit dem IS sympathisierten. Schon länger hatten wir die Befürchtung, dass ein 16-Jähriger demnächst den Weg in den „heiligen Krieg“ nimmt. Eines Abends hatte ich mit ihm eine massive Auseinandersetzung nach seiner Postulierung, dass es in Ordnung wäre, Juden zu töten. Entsetzt signalisierte ich ihm, dass es jetzt reicht und forderte ihn auf, das Jugendzentrum zu verlassen. Ich nahm ausnahmsweise Kontakt mit seiner Mutter auf und konnte ihr den Ernst der Lage in einem Gespräch verdeutlichen. Zwischenzeitlich hielt er Abstand vom Jugendzentrum.

Drei Monate später kam seine Mutter mit der dringenden Bitte, Lebenslauf und Bewerbungsschreiben ihres Sohns auszubessern, da er am folgenden Tag einen Vorstellungstermin bei einer Firma hatte. Es war nicht möglich, das Prozedere mit einer Mutter, knapp vor der Schließzeit und in Abwesenheit ihres Sohnes, zu machen und ich wollte diese Bitte ablehnen. Ein bisschen genervt machte ich eine Ausnahme, redigierte die beiden Dokumente und wünschte der Mutter und ihrem Sohn viel Glück.
Tatsächlich bekam der 16-Jährige diese Lehrstelle. Sein Leben stabilisierte sich umgehend und die radikal islamistischen Interventionen nahmen ein Ende.

 

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Deine Kolleg_innen, die Kinder und Jugendlichen werden dich sehr vermissen! Was wirst du am meisten vermissen?

Ich liebe die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen, ich höre ihnen gerne zu, ich fordere sie auf mir die eine oder andere Geschichte genau zu erzählen, ich kann aber auch drei Stunden lang Seildrehen und mich daran begeistern, wie Kinder immer besser werden und unglaublich viel Spaß haben. Ich liebe es, aus dem Einfachen einen Schatz zu bergen. Das wird mir wahrscheinlich abgehen. Da ich aber als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche weiterarbeiten werde, bleiben junge Menschen weiterhin mein Thema. Als Jugendzentrums-Leiter war mir die Arbeit mit dem Team immer vorrangig und wichtig. Aus dieser Rolle werde ich mich wohl wirklich verabschieden müssen.

Jetzt kannst du in den verdienten Ruhestand gehen. Was sind die ersten To Do‘s in deiner Pension?

Ich freue mich auf mehr Zeit für meine Familie und mich, besonders aber auf meine Enkelkinder, die in der Schweiz leben. Ein Musikprojekt mit Kollege Hermann Schopf steht in Aussicht und für den gesunden Teil freue ich mich auf die wöchentliche Wandergruppe, die sich in der Coronazeit etabliert hat. Sonst bleibe ich offen, auch für Neues, was auch immer sich ergibt.

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