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12. Mai 2022

Offene Jugendarbeit und Digitalisierung

Der Beitrag "Offene Jugendarbeit und Digitalisierung" wurde von Manuela Smertnik verfasst. Sie ist die Geschäftsführerin des Verein Wiener Jugendzentren. Ihr Beitrag ist im Sammelband "Schutzkonzepte in der Offenen Jugendarbeit" erschienen. Darin werden neben theoretischen Verortungen und empirischen Erkenntnissen auch Qualitätsstandards für Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit vorgestellt.

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Dieser Beitrag spannt einen Bogen vom digitalen gesellschaftlichen Wandel über notwendige digitale Kompetenzen für gesellschaftliche Teilhabe bis zur digitalen Jugendarbeit. Digitale Entwicklungen in Organisationen der Jugendarbeit sowie Eindrücke und Erfahrungen aus der Jugendarbeit in Zeiten der Covid-19-Pandemie schließen den Beitrag ab. Die Ausführungen in diesem Beitrag beziehen sich auf Jugendarbeit in Österreich.

Digital kompetent

Die zunehmende Digitalisierung prägt und verändert unseren Alltag, unser gesamtes Leben. Insbesondere in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist das Digitale von zentraler Bedeutung – nicht nur in der Kommunikation in Online-Netzwerken, in der Gestaltung und im Konsum digitaler Medien, sondern auch in Bildung, Ausbildung sowie aktuellen und zukünftigen Arbeitswelten. Digital Literacy ist gefragt und notwendig: die Kompetenz, sich in und mit digitalen Medien und Technologien zurechtzufinden. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist zunehmend von digitalen Kompetenzen abhängig. Kinder und Jugendliche wachsen mit diesen Technologien auf. Man möchte meinen, dass sie sich entsprechende Kompetenzen deshalb quasi „im Vorbeigehen“ wie selbstverständlich aneignen. Dass das nicht automatisch, nicht in allen Aspekten und nicht generell bei allen Jugendlichen so ist, haben in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Studien (s. Literaturverzeichnis) aufgezeigt:

„Ein ‚Digital Divide‘ verläuft […] nicht nur zwischen den Generationen, er tut sich auch unter den Jungen auf – und verläuft hier vor allem entlang der Grenzen sozialer Ungleichheit. Jugendlichen mit niedriger formaler Bildung werden nicht genug digitale Kompetenzen vermittelt, um etwa digitale Medien zur Erreichung persönlicher Ziele zu verwenden, auf sozialen Netzwerken ihren eigenen Standpunkt zu artikulieren oder digitale Medien für die Schule zu benutzen“ (AK Wien 2016).

Diese digitale Spaltung wurde jedoch noch nie so deutlich wie während der COVID-19-Pandemie. Hier zeigte sich – entgegen der vielfach vertretenen Annahme, dass alle jungen Menschen über die technische Ausstattung für einen digitalen Zugang verfügen würden („alle haben ein Smartphone“) –, dass auch im technischen Zugang Ungleichheiten bestehen. Große Schwierigkeiten beim Distance Learning waren die Folge, auch durch fehlende Infrastruktur. Vor der Pandemie war dieser Aspekt vielfach zugunsten der Thematisierung des Bereichs der „Informationskompetenz“, also dem Digital Gap im kompetenten Umgang mit Inhalten, nicht im Fokus: „Wo der Aspekt des technischen Zugangs also in den Hintergrund tritt, wird derjenige unterschiedlicher Nutzungsarten dafür immer wichtiger“ (AK Wien/Institut für Jugendkulturforschung 2016, S. 5). Zwar trifft dies nach wie vor zu, jedoch hat die Pandemie gezeigt, dass nicht einmal im technischen Zugang alle dieselben Möglichkeiten haben.

Es geht demnach auch um den Ausbau und die Bereitstellung entsprechender Infrastruktur. Dennoch kann konstatiert werden, dass die größte Herausforderung und oft auch die größte Differenz zwischen Gruppen und Personen im kompetenten und selbstbestimmten Umgang mit Technologien und Inhalten besteht. Wissen darüber, wie Algorithmen funktionieren, wie man den Wahrheitsgehalt von Informationen recherchiert oder auch Verschwörungserzählungen entlarvt, erlangt man nicht „zwingend im täglichen Umgang mit dem Medium wie ganz von selbst“ (ebd.). Daher ist das Vermitteln digitaler Kompetenzen unabdingbar. Dafür braucht es ein anregendes Umfeld, das Experimentieren ermöglicht und Erfahrungsräume anbietet, wo Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe begegnet wird und sich alle als Lernende begreifen. Lehrpläne und Grundlagen einer „digitalen Grundbildung“ für das österreichische Schulsystem wurden im „Kompetenzmodell digi.komp“1 zusammengefasst. Die Erfahrung in der Jugendarbeit zeigt jedoch, dass im Moment die Vermittlung digitaler Kompetenzen über die Schule nicht ausreicht bzw. nicht von allen gleichermaßen genutzt werden kann. Es machen sich Ungleichheiten bemerkbar, soziale und familiäre Aspekte wiegen schwer und sind in diesem Bereich ebenso als Erfolgsfaktoren zu begreifen wie generell im Bildungssystem.

Digitale Jugendarbeit als Querschnittsaufgabe

Welchen Beitrag leistet nun die Offene Jugendarbeit (OJA) in diesem Zusammenhang? Wie eingangs beschrieben scheint der Digital Gap größer denn je. Hier kann die OJA durch ihren niedrigschwelligen, offenen und freiwilligen Zugang unmittelbar anknüpfen und wesentliche Beiträge zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit leisten. Im Sinne der Sozialraum- und Lebensweltorientierung begibt sich Jugendarbeit dorthin, wo Jugendliche sind, und begegnet ihnen in ihren Lebenswelten – offline wie online.

Mit vielfältigen Methoden und Arrangements werden dabei Medienbildungsprozesse angeregt. Jugendarbeiter:innen zeigen echtes Interesse an den digitalen Lebenswelten der Jugendlichen und regen eine aktive Auseinandersetzung an. Digital medienkompetente Jugendarbeit fördert diese Auseinandersetzung auf allen Ebenen und stellt Ressourcen zur Verfügung. Aspekte der Digitalisierung fließen in zahlreiche Handlungsfelder der OJA ein, nicht zuletzt auch im Rahmen politischer Bildung und Partizipation (vgl. Verein Wiener
Jugendzentren 2020, S. 27 ff.).

In den letzten Jahren haben sich verschiedene Begrifflichkeiten rund um die Arbeit mit und in digitalen Medien entwickelt. Viele werden parallel verwendet
und synonym verstanden: digitale Jugendarbeit, e-youth work, Online-Jugendarbeit, Online-Streetwork usw. Vielfach wird digitale Jugendarbeit mit Online-Jugendarbeit gleichgesetzt. Digitale Jugendarbeit ist allerdings als Überbegriff und Querschnittsaufgabe zu verstehen. Gemeint ist mit dem Begriff die Nutzung von und die Auseinandersetzung mit digitalen Medien und Technologien in der Jugendarbeit (vgl. Stadt Wien – Bildung und Jugend 2021). Digitale Jugendarbeit steht also für „eine Jugendarbeit in einer mediatisierten, digital vernetzen Gesellschaft“ (Pöyskö et al. 2020, S. 349 ff.) und kann in allen Bereichen der Jugendarbeit zum Einsatz kommen: online wie offline, im Jugendzentrum, im Park – überall dort, wo Jugendarbeit passiert.

In Anlehnung an die europäischen Leitlinien für digitale Jugendarbeit2 beschreibt auch das Wiener Papier zum besseren Verständnis drei Dimensionen digitaler Jugendarbeit. Online-Jugendarbeit ist eine davon. Im Wesentlichen ist damit die auch in der deutschsprachigen Fassung der Leitlinien3 beschriebene Digitalisierung der Jugendarbeitsangebote gemeint: Inhalte und Themen aufbereiten, Beteiligung ermöglichen, Online-Treffpunkte anbieten, aufsuchende Online-Arbeit, Beratung, Spiel, Spaß, jugendkulturelle Aktivitäten u. v. a. m. (vgl. Jugendarbeit.wien 2021). Darüber hinaus meint digitale Jugendarbeit aber auch generell das Bereitstellen von Ressourcen und Infrastruktur, das Angebot praktischer Aktivitäten wie Coding, Making (vgl. medien+bildung.com gGmbH o. J.), digitale Foto und Videoprojekte, Podcasts, Gaming, E-Sports u. Ä. sowie die Auseinandersetzung mit vielerlei Aspekten von Digitalisierung oder digitalen Lebenswelten.

Dazu gehören sowohl Themen wie Fake News, Hatespeech, Cybermobbing, Datenschutz, Privatsphäre und Risikobewusstsein als auch das Wissen um Algorithmen oder die Auseinandersetzung mit Big Data4. Durch diese vielfältigen Methoden und Zugänge werden „Bildungsräume für selbstbestimmtes digitales Lernen“ (Stadt Wien – Bildung und Jugend 2021) bereitgestellt. In Bezug auf die eingangs beschriebenen Aspekte eines Digital Divide und die vorrangigen Zielgruppen der OJA, deren Mitglieder größtenteils in sozial benachteiligten Milieus aufwachsen, lässt sich zusammenfassen: „Digitale Jugendarbeit ist Querschnittsmaterie, die in alle Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendarbeit reicht, und zielt darauf ab, die Chancengerechtigkeit sowie Teilhabe- und Handlungsmöglichkeiten ihrer Zielgruppen in der digital vernetzten Gesellschaft zu stärken“ (Stadt Wien – Bildung und Jugend 2021).

Online-Jugendarbeit – ein Handlungsfeld der Offenen Jugendarbeit

Wie in Abschnitt 11.2 beschrieben, wird Online-Jugendarbeit als eine Dimension digitaler Jugendarbeit definiert. Dieser Arbeitsbereich ist in zahlreichen Organisationen der Jugendarbeit schon seit einigen Jahren ein fixer Bestandteil der Angebotsstruktur. Konzepte und Guidelines wurden entworfen und weiterentwickelt. Jugendarbeit begegnet Jugendlichen im Sinne der Sozialraum- und Lebensweltorientierung an den für junge Menschen relevanten Orten einschließlich Online-Netzwerken, denn „Informations- und Kommunikationswelten von Jugendlichen haben sich im Zuge der Mediatisierung gewandelt und stellen sich ‚entgrenzt‘ dar“ (Tillmann 2020, S. 59). Das bedeutet, Online- und Offline-Kommunikation gehen ineinander über, verlaufen parallel oder mehrdimensional. „Als Jugendarbeiter_innen sind wir für Kinder und Jugendliche auch in Online-Räumen vertrauenswürdige Ansprechpersonen“ (Stadt Wien –
Bildung und Jugend 2021). Dafür braucht es entsprechende Rahmenbedingungen in den Organisationen, Fortbildungen und Reflexionsmöglichkeiten für Mitarbeiter:innen und Teams.

Digitale Entwicklungen in Organisationen

Neben zahlreichen Digitalisierungsschritten in den Verwaltungsbereichen einer Organisation sind insbesondere in der jüngsten Vergangenheit auch Kommunikation und Teamarbeit einer zunehmenden – vielfach nicht ganz freiwilligen – Digitalisierung unterzogen worden. Digital kompetente Organisationen schaffen Räume der Auseinandersetzung auf allen Ebenen zu Chancen und Möglichkeiten, ohne die Risiken außer Acht zu lassen. Eine entsprechende technische Ausstattung bildet dafür die Basis. In Social Media Guidelines bspw. werden Haltungen und Rahmenbedingungen definiert sowie Orientierung und Verbindlichkeit für die Online-Jugendarbeit geboten. Daneben braucht es auch Richtlinien zum Datenschutz (DSGVO) sowie Sicherheitskonzepte. Regelmäßiger Erfahrungsaustausch sowie fachspezifische Fortbildungen schaffen – wie auch in anderen Bereichen der Jugendarbeit – die Grundlage für eine professionelle und entwicklungsoffene Online-Jugendarbeit.

… und dann kam Corona

Gerade während der COVID-19-Pandemie war der Arbeitsbereich Online-Jugendarbeit zentral. Dort, wo es bereits stabile Kommunikationskanäle gab, konnte direkt angeknüpft und die Kommunikation und der Kontakt mit den Jugendlichen konnten quasi nahtlos fortgesetzt werden. Zudem mussten entsprechende, bereits vorhandene Konzepte und Guidelines für die spezifischen Herausforderungen lediglich adaptiert werden, statt sie gänzlich neu zu erarbeiten und zu verhandeln. Dennoch gab es große Herausforderungen insbesondere in Bezug auf die Arbeitsorganisation, die Entgrenzung von Beruf und Privatleben sowie die Gestaltung der Teamarbeit auf Distanz. OJA ist grundsätzlich Teamarbeit, auch im Zusammenhang mit Online-Angeboten. Die Lockdown-Bedingungen erschwerten dies und machten die Erarbeitung neuer Formen der Kooperation notwendig – individuelles Agieren und gemeinsames Reflektieren waren angesagt. Besprechungen der Online-Arbeit – wer macht wann, was, wo, mit wem, wo wird das besprochen, wie können die Jugendlichen auch das „Team“ erkennen und nicht nur die einzelnen Mitarbeiter: innen usw. – mussten transparent bearbeitet werden. Viele Aspekte und spezielle Herausforderungen sowie Ansätze, Lösungsmöglichkeiten und Erfahrungen wurden in Blogbeiträgen4 auf der Webseite des Vereins Wiener Jugend-zentren6 zusammengefasst und boten Transparenz der Online-Arbeit unter Corona-Bedingungen für die organisationsinterne Weiterentwicklung und Information, Beschreibung sowie für die Darstellung nach außen. Viel wurde in diesem Jahr in Bezug auf Digitalisierung in allen Bereichen erkannt und gelernt. Nun geht es darum, diese Learnings für die Zukunft mitzunehmen und so einen Beitrag zu einer digital kompetenten Gesellschaft zu leisten.

 

Kompetenzmodell digikomp: https://digikomp.at (Abfrage: 18.6.2021)

2 Europäische Leitlinien für digitale Jugendarbeit: www.digitalyouthwork.eu/guidelines (Abfrage: 18.6.2021)

3 Europäische Leitlinien für digitale Jugendarbeit, deutschsprachige Fassung: www.digitalyouthwork.eu/wp-content/uploads/2019/11/Europaeische_Leitlinie_fuer_digitale_Jugendarbeit.pdf (Abfrage: 18.6.2021)

4 Blog des Vereins Wiener Jugendzentren: www.jugendzentren.at/publikationen-blog/blog/ (Abfrage: 18.6.2021)

Literatur

Manuela Smertnik, Verein Wiener Jugendzentren

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