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29. Dezember 2023

"Gestiegene Jugendkriminalität"

Da sind sie wieder, die Schlagzeilen. „Die Jugendkriminalität nimmt zu!“ lautet beispielswiese der Titel eines Artikels auf wien.orf.at. Im deutschsprachigen Raum gab es zuletzt vermehrt Medienberichte über „Kinder- und Jugendkriminalität“. Insbesondere die Anzahl der unmündigen Straftäter:innen wird dabei oft hervorgehoben. Wir werfen einen nüchternen, an Fakten orientierten Blick darauf und versuchen einzuordnen.

Der Verein NEUSTART hat dies bereits in einem ausführlichen und differenzierten Faktencheck getan. Es ist richtig, dass die Anzahl unmündiger Tatverdächtiger laut offiziellen Statistiken seit 2013 stark gestiegen ist. Berücksichtigt man jedoch die gestiegene Aufklärungsquote, die Änderung der Zählweise und die Bevölkerungsentwicklung, relativiert sich dieses Bild.

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Von 2013 bis 2022 ist die Aufklärungsquote um mehr als 20 Prozent gestiegen. Des Weiteren wurde 2018 die Zählweise von Ein- auf Mehrfachzählung geändert. Deshalb weist die Statistik 2018 um 6,5% mehr Tatverdächtige aus als bei Einmalzählung. Zudem ist die Bevölkerung der 6- bis 13-Jährigen von 2013 bis 2022 um vier Prozent gewachsen.

Tatsache ist: 2022 war die Zahl der Tatverdächtigen höher als in den Jahren davor, in denen es ein Auf und Ab gab. Ob daraus ein genereller Trend ableitbar ist, werden erst die nächsten Jahre zeigen. Zusätzlich ist wichtig zu erwähnen, dass es um Anzeigen und nicht um Verurteilungen geht. Diese sind bis 2021 gesunken, obwohl (mit Stichtag 2022) um 13% mehr junge Menschen in Wien leben als noch 2013 (Stadt Wien, Wirtschaft, Arbeit Statistik, Stand: 1.1.2022).

Handlungskompetenz von Jugendlichen fördern

Es gibt in diesem Bereich noch weitere Einflussfaktoren wie die generell höhere Anzeigenbereitschaft, die nicht nur die Jugendarbeit, sondern auch die Polizei wahrnimmt. Es ist zudem bekannt, dass Änderungen im Strafrecht im Bereich Cybermobbing, Hass im Netz und Sexting zusätzliche Straftatbestände geschaffen haben, die folgerichtig auch zu zusätzliche Anzeigen führen. Grundsätzlich sind diese Anpassungen durchaus zu begrüßen. Es muss uns allerdings bewusst sein, dass viele Straftaten in diesem Bereich von Personen gesetzt werden, die sich ob ihres jugendlichen Alters ihres Vergehens nicht bewusst sind und/oder die Kompetenz fehlt, das strafrechtlich relevante Verhalten zu vermeiden.

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Ein Beispiel für Letzteres: Einvernehmlich hergestelltes Bildmaterial von minderjährigen Personen (beispielsweise beide 16 Jahre alt) bei intimen Handlungen ist per se nicht strafbar. Die Weitergabe dieses Bildmaterials jedoch sehr wohl. Dafür reicht schon ein unbeaufsichtigtes, nicht gesperrtes Handy, auf das eine andere Person zugreift. In solchen Fällen sollte es vielmehr darum gehen die Handlungskompetenz der Jugendlichen zu schulen, als sie durch das Strafrecht zu kriminalisieren.

Stigmatisierung junger Menschen als Problem

Was uns auf einer inhaltlichen Ebene auch Sorgen machen sollte, ist, dass die generelle Rezeption einer Altersgruppe – nennen wir sie „die Jugendlichen“ – als problematisch, problembehaftet und sowieso schwierig in seiner Undifferenziertheit stigmatisierend für junge Menschen ist. Ja, es gibt Jugendliche die uns als Gesellschaft Sorge bereiten sollten. Dass diese sich in Gruppen organisieren, um kriminelle Handlungen zu setzen, ist allerdings selten. Natürlich sollten wir diese Gruppen im Auge behalten, daraus jedoch nicht ein allgemeines Werturteil gegenüber Jugendgruppen ableiten.

 

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Problematische Jugendgruppen haben in ihrer Zusammensetzung oft eine hohe Anzahl an „Mitläufern“. Vielen scheint, in einem gruppendynamischen Prozess, ein Ausstieg als unmöglich. Unsere Aufgabe muss darin bestehen, Exit-Strategien anzubieten, um nicht nur individuelle biografische Verläufe, sondern auch unser gesamtgesellschaftliches Zusammenleben positiver zu gestalten. Viele dieser Jugendlichen haben hoch belastete Familiensituationen und sind häufig selbst Opfer von Gewalt in verschiedenen Kontexten. 

Lebensphase voller Unsicherheiten

Ebenso wenig darf übersehen werden, dass die Lebensphase Jugend generell von Umbrüchen und Unsicherheiten geprägt ist. Eine Lebensphase, die über eine längere Zeitstrecke mit Entwicklungsaufgaben verbunden ist, die junge Menschen physisch und psychisch stark fordern. Dabei müssen sie die Instrumente zur Bewältigung dieser Phase parallel erst erlernen, individuell anpassen und weiterentwickeln. Das ist in seiner Gesamtheit sehr herausfordernd und, wie die meisten Lernprozesse, nicht immer nur von Erfolgen geprägt.

Offene Jugendarbeit kann hier ein ganz wichtiger Anker für Kinder und Jugendliche sein. Zahlreiche junge Menschen zwischen zehn und 20 Jahren nutzen täglich unsere Angebote in den Einrichtungen oder interagieren mit uns im Öffentlichen Raum im Rahmen der herausreichenden oder auch mobil aufsuchenden Jugendarbeit.

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Kreative und konstruktive Teilhabe

Dabei bleibt es oft nicht nur beim Reden, es werden auch gemeinsame Aktionen geplant und umgesetzt. Von kleinen Alltagsaktionen wie dem gemeinsamen Kochen, Sportangebote oder Kreativaktionen bis hin zu größeren Aktivitäten wie Graffiti-Projekten oder dem Arbeiten im Tonstudio. Wir bieten jungen Menschen eine Vielzahl an Möglichkeiten der konstruktiven und vor allem auch kreativen Teilnahme und die Gelegenheit, sich die eigenen Lebenszusammenhänge zu gestalten. Das beschränkt sich nicht nur auf physische Räume, auch in den Sozialen Medien interagieren unsere Jugendarbeiter:innen mit den Jugendlichen und setzen auf Teilhabe. Es ist ein wichtiger und zentraler Aufenthaltsort und vor allem auch ein Ort der Auseinandersetzung innerhalb der Peergroups.

Darüber hinaus ist auch die politische Teilhabe ein wesentlicher Faktor. Das zeigt sich beispielsweise im Rahmen unserer Word Up! Jugendparlamente, bei dem Schüler:innen die Chance haben ihren Bezirk zu gestalten, mitzubestimmen, Demokratie zu erleben und ihre eigenen Ideen für ihre direkte Wohn- und Lebensumgebung einzubringen. Es zeigt sich auch beim Thema (fehlendes) Wahlrecht, wo wir im Zuge unserer #InitiativeWahlrecht mit jungen Menschen gemeinsam über Dinge wie Demokratiedefizit sprechen und betroffene Jugendliche auch selbst zu Wort kommen lassen.

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Es sind alles Beispiele für die Teilhabe und das positive Agieren junger Menschen. Bei allen Problemen und Belastungen, denen wir derzeit alle ausgesetzt sind, die sich jedoch auf einer individuellen Ebene und je nach sonstigen Lebensumständen unterschiedlich auswirken, sollten wir folgendes nicht vergessen: Worauf wir unseren Blick richten, nehmen wir wahr. Wenn wir Situationen in unserem Leben als belastend empfinden, nehmen wir auch verstärkt Probleme in anderen Bereichen wahr. Das hat einen direkten Einfluss darauf, wie wir im konkreten Fall Jugendliche wahrnehmen, die in einem sehr vulnerablen Lebensabschnitt, unter derzeit schwierigen Umständen, versuchen einen Weg für sich zu finden. Das sollten wir in unseren Urteilen und Bewertungen immer mitbedenken.

Christian Holzhacker, pädagogischer Bereichsleiter

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