Im Auftrag des Verein Wiener Jugendzentren wurde unter dem Titel „Jugend ermöglichen“ ein Sammelband zur Geschichte der Jugendarbeit in Wien publiziert – herausgegeben von Lothar Böhnisch, Leonhard Plakolm und Natalia Waechter.
Auf 488 Seiten befassen sich mehr als 20 Autor_innen aus Wissenschaft, Publizistik und Praxis mit den Vorstellungen von Jugend und den Diskursen über die sich ständig wandelnde Arbeit mit Jugendlichen, historisch dokumentiert und durch zahlreiche Abbildungen illustriert. Zentral erscheint dabei das permanente Spannungsfeld zwischen dem Aufbegehren der Jugendlichen einerseits und der kommunalen Ordnungspolitik andererseits. Die Beiträge gelten der antiautoritären Jugendpädagogik des Roten Wien, der mit den Youth Centers beginnenden demokratischen Pädagogik nach 1945, den Krisen der Jugendorganisationen, den sogenannten „Halbstaken“ und den Jugendrevolten der 70er Jahre, welche zur Gründung autonomer und kommunaler Jugend und Kulturzentren in Wien beitrugen. Das Buch reicht in die Gegenwart mit den Themen Integration/Inklusion, informelles Lernen, Streetwork und Medienpädagogik.
Jugendforschung in der 1. Republik
Im ersten Teil des umfangreichen Werks geht es um die Entstehung der Wiener Jugendpädagogik ab dem Ende des 1. Weltkriegs bis zur Machtübernahme der Austrofaschisten 1934, die der modernen Jugendarbeit ein jähes Ende setzten. Lothar Böhnisch betont in seiner Rede zur Buchpräsentation die Fortschrittlichkeit der Wiener Jugendforschung während der 1. Republik und ist der Meinung, dass diese auch nach dem Krieg nicht wieder erreicht wurde, zum Teil bis heute nicht.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie konnte die Sozialdemokratie vor allem in Wien etliche Reformen durchsetzen. Diese reichten von sozialem Wohnbau bis zur Jugendfürsorge. Die Jugend lag der Stadt damals besonders am Herzen, und sie war bereit, in den sogenannten „neuen Menschen“ zu investieren.
Die erste Organisation, die sich mit Kindern aus proletarischen Familien beschäftigte, waren die Kinderfreunde, die nach dem 1. Weltkrieg zur Massenorganisation und in die SPÖ integriert wurden. Inhalt des pädagogischen Konzepts war vor allem die Stärkung des Selbstbewusstseins, man/frau machte sich dabei die Individualpsychologie zu nutze.
Ein weiterer Reformmotor war die Schulreform, forciert vor allem von Otto Glöckel, umgesetzt vom Roten Wien. Gewisse Elemente, wie Freifahrt und Gratisschulbuch waren damals schon Thema, sie wurden erst in den 1970ern unter Kreisky wieder aufgenommen. Das Rote Wien investierte viel Geld in die Bildung und neue Ideen – wie gewaltfreier Umgang und demokratisches Miteinander – konnten so ins Schulwesen integriert werden.
Damit war 1934 rasch Schluss, und bedeutende Namen wie Sofie Lazarsfeld oder Charlotte Bühler gerieten in Vergessenheit. Sie erfahren aber im Buch wieder neue Bedeutung.
Nachkriegsjugend neu aufgestellt
Teil zwei beschäftigt sich mit Jugendorganisationen, sozialen Bewegungen und der offenen Jugendarbeit zwischen 1945 und 1995. Behandelt werden Jugendorganisationen wie die Freie Österreichische Jugend, die Sozialistische Jugend, die Kinderfreunde, die Roten Falken und die Katholische Jugend. In diesem Teil findet sich auch ein Beitrag Michael Genners, Mitbegründer der Gruppe Spartakus, die gegen die berüchtigte Heimerziehung kämpfte und sich die Heimbefreiung zum Ziel machte.
Aber auch gesellschaftspolitische Themen wie die autonome Frauenbewegung, Wohngemeinschaften und Hausbesetzungen finden Eingang. Feministische Mädchenarbeit und Mobile Jugendarbeit werden ebenfalls ausführlich beschrieben.
Jugendarbeit heute
Im dritten und letzten Teil erhalten die Leser_innen vor allem einen Überblick über Aspekte und Ansätze kommunaler Jugendarbeit in der Gegenwart. Die Autor_innen beschäftigen sich mit der Entwicklung der offenen Jugendarbeit ab Mitte der 90er Jahre bis heute. Im Fokus stehen Perspektiven feministischer Mädchenarbeit, Aspekte und Motive der Burschenarbeit sowie die Auseinandersetzung mit migrantischen Jugendlichen.
Leonhard Plakolm geht der Frage der Professionalisierung von sozialen Vereinen nach und erörtert diese anhand eines Vergleichs des selbstverwalteten WUKs mit dem kommunalen Verein Wiener Jugendzentren. Neu eingegangen in die Jugendarbeit ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Übergang Schule – Beruf. Unverzichtbar ist auch die Beschäftigung mit Medienpädagogik, und letztlich geht es auch um die Zukunft und die Perspektiven der offenen Jugendarbeit
Der Sammelband ist ein umfangreiches Werk, das sich mit (fast) allen Aspekten von Jugendarbeit beschäftigt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Pflichtlektüre für alle angehenden und schon im Beruf stehenden Sozialarbeiter_innen und interessant auch für jene, die sich für junge Menschen und die Arbeit mit ihnen interessieren.
Jugend ermöglichen
Erhältlich um 24.90€ beim Mandelbaum Verlag, im Buchhandel sowie über den Verein Wiener Jugendzentren.
Claudia Gerhartl (WUK Info)