Was bleibt, wenn 30% fehlen?
In Wien sind 30% der über 16-jährigen Bürger_innen nicht wahlberechtigt.
Obwohl Wien Pionierin und Vorreiterin in der Wahlalterssenkung auf 16 Jahre war, sind hier noch immer 72.000 Menschen zwischen 16 und 24 Jahren von der politischen Teilhabemöglichkeit ausgeschlossen. Durch die Koppelung des Wahlrechtes (im Verfassungsrang) an die Staatsbürger_innenschaft dürfen sie in der Stadt und in dem Staat, in dem sie leben und oft auch schon geboren sind, nicht mitbestimmen. Sie sind dauerhaft ausgeschlossen, es wird ihnen innerhalb einer repräsentativen Demokratie gar nicht erst die Möglichkeit gegeben die politische Vertretung zu wählen.
Ein zentrales Merkmal von Demokratie ist es, dass die Teilnahme und Mitwirkung an politischen Entscheidungen all jenen offenstehen, die von diesen Entscheidungen auch betroffen sind. Doch in der österreichischen Demokratie ist dies nicht der Fall, hier wird gesetzlich zwischen Wohnbevölkerung und Wahlbevölkerung unterschieden. Mitmachen dürfen nur diejenigen, die „dazugehören“, indem sie das Privileg der Staatsbürger_innenschaft besitzen. Was sagt das über unsere Demokratie aus? Wie repräsentativ ist diese Demokratie? Gerd Valchars prägte dafür den Begriff der „defizitären Demokratie“ (vgl. Valchars, Gerd 2006)
Wien ist österreichweit die Stadt mit dem größten Zuwachs von Jugendlichen und entwickelt sich rasant vom ältesten zum jüngsten Bundesland (siehe Altersschnitt der Bevölkerung). In Wien ist auch der Anteil der Bevölkerungsgruppe mit „Migrationshintergrund“ bzw. mit fremder Staatsbürger_innenschaft besonders hoch.
So ist es umso unverständlicher, dass genau diese Bürger_innen (Anfang 2019 waren dies 473.566 Menschen, das entspricht in etwa der Gesamtbevölkerung der Städte Graz oder Salzburg) ausgeschlossen werden. Sie werden durch die fehlende „Währung Wahlstimme“ von der Politik nicht gehört, nicht gesehen und auch in ihren Anliegen nicht repräsentiert. Je stärker dieser Ausschluss ist, desto größer wird das Demokratiedefizit, desto mehr stellt sich die Frage nach der demokratiepolitischen Legitimation einer gewählten Vertretung.
Für die Stadt Wien stellt sich noch die zusätzliche Problematik der politischen Repräsentanz im Bund, begründet durch den Anteil der Wahlberechtigten. Die politische Repräsentanz und der Einfluss sinken diametral zur steigenden (Wohn-)Bevölkerung. Wien hat 2004 schon versucht dem Ungleichgewicht und dem partiellen Ausschluss entgegenzuwirken. Der Gemeinderatsbeschluss zur Gewährung des Wahlrechts auf kommunaler Ebene für Drittstaatsangehörige wurde durch den Verfassungsgerichtshof aber wieder aufgehoben.
Das Einbürgerungsrecht wurde in den vergangenen Jahren (2005–2013) drastisch verschärft. Dies war möglich, da das Staatsbürgerschaftsrecht ein Bundesgesetz ist (im Gegensatz zum Wahlrecht im Verfassungsrang) und daher durch die jeweiligen Regierungsparteien beschlossen werden konnte.
Die dort verankerten massiven Hürden, Auflagen und finanziellen Belastungen lassen vielen Bewohner_innen die Erlangung der Staatsbürger_innenschaft unmöglich erscheinen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Verschärfungen, dieser Ausschluss von zugewanderten Menschen aus einem Niedriglohnsektor (den sogenannten Gastarbeiter_innen) gewollt ist. Wer über genug sozioökonomisches Kapital verfügt, darf auch mitbestimmen. Die regierenden Parteien hätten auch die Möglichkeit gehabt, die Einbürgerung zu erleichtern, ein Willkommenszeichen zu setzen und zur aktiven und verantwortlichen Teilnahme, zur Integration einzuladen. Die laufenden Verschärfungen und folgend der Ausschluss von der basalen Form der Mitbestimmung – dem Wahlrecht – wirken sehr desintegrativ. Demokratie muss gelernt und geübt werden, sonst geht Demokratiekultur verloren. Das demokratiepolitische Defizit muss von der Politik erkannt und behoben werden.
Die Jugendlichen, die oft schon in zweiter und dritter Generation in Wien leben und aufgewachsen sind, haben schon seit Generationen diese ausschließende Sozialisationserfahrung. Dieses dauerhafte und unverschuldete Ausgeschlossensein tradiert und internalisiert sich in das Selbstbild dieser Heranwachsenden. „Warum soll ich mich einbringen? Wozu? Es bringt ja nix“.
Die soziale Segregation und die vererbte Unmöglichkeit der Mitbestimmung setzen sich fest. Ist dies gewollt? Wie kann von den Jugendlichen Integration, Partizipation, sich Einbringen oder die aktive Mitgestaltung ihres Lebensumfeldes erwartet werden, wenn sie die Exklusion täglich erleben müssen? Welche Auswirkungen haben diese Ausschlusserfahrungen auf eine gelingende Identitäts- und Selbstwertentwicklung? Und was entgeht uns allen, welcher Bereicherung beschneiden wir uns, wenn 30 Prozent ausgeschlossen werden? Wir müssen uns als Gesellschaft diese Fragen stellen.
Wir müssen uns verstärkt dafür einsetzen, für diese Bürger_innen einen Zugang zu demokratiepolitischer Teilhabe zu schaffen. Junge Menschen in Wien müssen sich als Teil der Stadt erleben können, sie müssen gleichberechtigt auf Augenhöhe gesehen und gehört werden. Diese Teilhabe fördert die Identifikation mit dem eigenen Lebensumfeld und fordert die Jugendlichen auch heraus, sich für ihre Anliegen und Bedürfnisse einzusetzen und Verantwortung zu übernehmen.
Es braucht Strategien für das Empowerment, für eine kritische politische Bildung und es braucht Projekte, in denen diese Fertigkeiten ausprobiert und geübt werden können – für Jugendliche und für die politischen Entscheidungsträger_innen.
Die Offene Jugendarbeit entwickelt eine Vielzahl von Partizipationsmöglichkeiten. Es wird jedoch zunehmend schwieriger, einem repräsentativen Spiegelungsphänomen zu entgegnen. Wir bekommen die Auswirkungen der tradierten Ausschlusserfahrungen in den Reaktionen auf die Einladung zu politischen Bildungs- und Partizipationsangeboten gespiegelt. Die Bandbreite reicht von Ignoranz und Gleichgültigkeit bis zu einem teils aggressiven Abwehr- und Protestverhalten. Aussagen wie „Wir dürfen eh nicht dabei sein“, „Warum fragt ihr uns? Bestimmen tun eh die anderen“ oder „Wir brauchen euch nicht, wir machen uns das selbst aus...“ zeigen uns in der Jugendarbeit, dass es dringenden Handlungsbedarf durch die Politik gibt.
Das Wahlrecht darf nicht als Privileg gesehen werden. Als Privileg, das durch die Staatsbürger_innenschaft verdient werden muss. Wer nicht mitbestimmen kann, wer sich unerwünscht erlebt, der interessiert sich auch nicht für die Gesellschaft und Politik in dem Land in dem er oder sie lebt. Und wer nicht die Währung Wahlstimme besitzt, der ist auch für die Politik als „Kund_in“ nicht interessant. Zur Marktforschung würde ich den Parteien die Ergebnisse der „Pass Egal Wahl“ empfehlen. Durchgeführt vom Verein SOS Mitmensch werden alle Nichtösterreicher_innen dazu aufgefordert, ihre Stimme symbolisch abzugeben, um ein Zeichen gegen den Demokratieausschluss zu setzen.
Einige Wege sind denkbar, um der derzeitigen, desintegrativ wirkenden Situation zu entgegnen bzw. sie zu entschärfen, wie z.B. der erleichterte Zugang zur österreichischen Staatsbürger_innenschaft, eine Ausweitung des Wahlrechts auf kommunaler Ebene für dauerhaft in Wien lebende Ausländer_innen, die Entkoppelung von Staatsbürger_innenschaft und Wahlrecht, Wohnsitzbürger_innenschaft oder die Anerkennung von Doppelstaatsbürger_innenschaft für in Österreich geborene Menschen.
Die Diskussion, die in der Zivilgesellschaft darüber geführt wird, muss ebenso in der Politik stattfinden. Sie hier anzustoßen ist dringlich und notwendig. Der Verein Wiener Jugendzentren setzt sich mit seiner Kampagne #wien30 genau dafür ein und stellt damit die eingangs erwähnte Frage – Was bleibt, wenn 30 Prozent fehlen? D_m_ kra_t_e?
...und gefällt uns das?
Literatur:
Valchars, Gerd (2006): Defizitäre Demokratie. Staatsbürgerschaft und Wahlrecht im Einwanderungsland Österreich. Studienreihe Konfliktforschung Band 18, Braumüller
#wien30 – Positionspapier (2020): Verein Wiener Jugendzentren.
Auszug aus dem Schulheft 179/2020: Grätzl und Gentrifizierung eine spannungsgeladene Ambivalenz, StudienVerlag Innsbruck 2020
Susi Schrott, Leiterin Jugendtreff J.at